Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat Interessierten auf der internationalen Bahnmesse InnoTrans, die vom 20. bis 23. September in Berlin stattfand, Einblicke in aktuelle Projekte rund um zukünftige Technologien für den Bahnverkehr gewährt. „Die Relevanz des Systems Schiene wird momentan wieder so deutlich wie lange nicht mehr. Das 9-Euro-Ticket hat wie ein Brennglas sowohl für das Potenzial als auch für die Herausforderungen im Personenverkehr gewirkt. Die niedrigen Pegelstände der Flüsse haben die Binnenschifffahrt eingeschränkt und auch hier gezeigt, dass die Kapazitäten der Bahn nicht vernachlässigt werden dürfen. Das DLR forscht am gesamten System Bahn, um neben Komfort, Sicherheit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit natürlich auch die Kapazitäten der Bahn zu erhöhen. Durch Transfer aus der Forschung auf die Schiene“, sagt Prof. Dr.-Ing. Karsten Lemmer, Mitglied des DLR-Vorstands und verantwortlich für Innovation, Transfer und wissenschaftliche Infrastrukturen.
Das DLR ist mit seiner Schienenverkehrsforschung die größte institutionell geförderte Forschungseinrichtung in Europa. Insgesamt tragen 13 DLR-Institute zur Forschung, Entwicklung und zum Transfer von Innovationen für den Verkehrsträger Schiene bei. Als Gründungsmitglied der Horizon Europe Partnerschaft EU-Rail arbeitet das DLR gemeinsam mit den europäischen Bahnbetreibern und der Industrie daran, das Bahnsystems weiterzuentwickeln.
Hightech-Fahrwerk für den Zug der Zukunft
Das Fahrwerk eines Zuges spielt eine wichtige Rolle für einen schnellen, zuverlässigen, sicheren und komfortablen Bahnverkehr. Deshalb arbeitet das DLR im Rahmen des Leitkonzepts Next Generation Train (NGT) an einem neuartigen, zukunftsweisenden Fahrwerksdesign: Es verzichtet auf durchgehende Radachsen, jedes Rad wird separat angetrieben und intelligent gesteuert.
Die Vorteile dieses Ansatzes: Züge könnten so in Zukunft effizienter und leiser unterwegs sein, Rad und Schiene dabei weniger verschleißen. Die Struktur und die eingesetzten Materialien sind bei diesem Hightech-Fahrwerk sowohl bei den tragenden Komponenten als auch in den Antriebsmotoren so optimiert, dass sie möglichst leicht sind. Weniger Gewicht senkt den Energieverbrauch und ermöglicht mehr Zuladung. Auch bei der Konstruktion und Gestaltung des Wageninnenraums entstehen neue Freiheitsgrade, weil die räumlichen Einschränkungen durch Radachsen entfallen.
In der Simulation und bei Experimenten mit einem Modell des NGT-Fahrwerks im Maßstab eins zu fünf hat sich das Konzept bereits als vielversprechend erwiesen. Deshalb haben die DLR-Forschenden nun in einem nächsten Schritt ein Funktionsmodell sowie einen Prüfstand im Originalmaßstab aufgebaut. Mit Hilfe dieser Forschungsinfrastruktur namens NGT FuN soll die Technologie in den nächsten Jahren weiterentwickelt und demonstriert werden. Fahrwerk und Forschungsinfrastruktur stellt das DLR erstmals auf der InnoTrans vor.
Stabil und schnell unterwegs – auch bei Seitenwind
Mit der Seitenwindversuchsanlage verfügt das DLR in Göttingen über eine weltweit einmalige Forschungsinfrastruktur, um die Auswirkungen von Seitenwinden und Böen auf fahrende Züge zu untersuchen. Wie diese Anlage und speziell der Böen-Generator genau funktionieren, zeigt das DLR auf der InnoTrans mit einem Exponat im Modellmaßstab. Mit dieser Großanlage kann die Aerodynamik von Schienenfahrzeugen weiter verbessert und so der sichere und gleichzeitig energieeffiziente Betrieb gewährleistet werden. Denn auch im Bereich der Bahn werden die Fahrzeuge durch innovative Leichtbaukonzepte und neuartige Materialien immer leichter. Das stellt neue Herausforderungen an die Aerodynamik und Stabilität dieser Fahrzeuge.
Alte Technik neu gedacht: Slip Coaching und virtuelles Kuppeln
Bei virtuell gekuppelten Zugverbänden existiert keine mechanische Verbindung mehr zwischen den einzelnen Triebzug-Einheiten. Eine betrieblich-technische Innovation des DLR-Leitkonzepts Next Generation Train (NGT) ist das dynamische Flügeln. Bei dieser Funktion ist es möglich, Züge virtuell zu kuppeln und dabei Zugverbände während der Fahrt zu stärken oder zu schwächen. Das ermöglicht auch ein neuartiges Betriebskonzept, dessen Vorbild das historische „Slip Coaching“ ist. Beim zukünftigen Slip Coaching-Verfahren verkehren mehrere Zugteile virtuell gekuppelt zwischen Knotenbahnhöfen. An Zwischenstationen halten nur einzelne Zugteile, während der Hauptzug mit voller Geschwindigkeit durchfahren kann. Dieses neue Konzept könnte dazu beitragen, auf existierender Infrastruktur ein verbessertes Angebot mit höherer Taktfrequenz, verringerten Reisezeiten sowie zusätzlichen Direktverbindungen umzusetzen. Um diese Vorteile aufzuzeigen, haben die Forschenden einen interaktiven Online-Demonstrator konstruiert, den die InnoTrans-Besuchenden am Stand des DLR ausprobieren können.
Bahn digital: Teleoperation von Zügen, Sensordaten für effizientere Instandhaltung und dynamische Sitzplatzreservierung
Im Bereich der Digitalisierung des Bahnbetriebs gibt das DLR auf der InnoTrans 2022 einen Einblick in die Forschungsarbeiten zu fahrerlosen Zügen. In Zukunft könnten „Remote-Train-Operators“ Züge von einer Leitstelle aus überwachen, bei Störungen eingreifen oder fernsteuern, wenn der hochautomatisiert fahrende Zug nicht mehr weiterkommt.
Grundvoraussetzung für den Einsatz solcher Systeme im Schienenverkehr ist die absolute Zuverlässigkeit. Diese kann nur durch eine unabhängige Überprüfung gewährleistet werden. Im Eisenbahnlabor RailSiTe erforscht das DLR seit rund zehn Jahren neue Konzepte und Verfahren, um komplexe Sicherungssysteme für den Schienenverkehr schneller in Betrieb zu nehmen. Regelmäßig zeigen Meldungen von Verzögerungen im Betriebsablauf durch Störungen an der Signaltechnik oder bei der Einführung des Sicherungssystems European Train Control System (ETCS) die Relevanz dieses Themas und den Bedarf an neuen Testverfahren. Die lange Erfahrung des DLR sorgt zum Beispiel dafür, dass aufwendige Überprüfungen, für die früher ein Jahr eingeplant werden musste, in zwei Monaten abgeschlossen sein können.
Weitere Exponate zeigen Demonstratoren, Projekte und Ergebnisse zum Testen digitaler Sicherungstechnik und zur eingebetteten Zustandsüberwachung der Gleisinfrastruktur. Mit digitalen Testsystemen können Systeme heute schon bei Herstellern effizient geprüft und für den Einsatz qualifiziert werden. Mit Sensoren in der Infrastruktur und auf Zügen könnten Informationen über den Zustand von Weichen, Stellwerken und Schienen schnell und zuverlässig gewonnen werden. Das DLR arbeitet in diesem Zusammenhang auch an Verfahren des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz, um diese Informationen möglichst effizient auszuwerten. Zudem entwickelt es Diagnosemodelle, mit denen die Verantwortlichen für Anlagen und Infrastruktur bei ihren Entscheidungen zu Wartungs- und Reparaturarbeiten unterstützt werden.
Unter dem Stichwort „dynamische Sitzplatz-Reservierung“ präsentiert das DLR einen neuen Lösungsansatz, wie Zugfahrende unnötige Wege durch die Wagen vermeiden könnten: nämlich indem sie ihre Sitzplatzreservierung in Echtzeit ändern, sobald sie ein freien und noch nicht reservierten Platz ausfindig gemacht haben. So ließen sich die Passagierströme in den Wagen begrenzen, die Einstiegszeiten deutlich verkürzen und das Reiseerlebnis verbessern. (jr)