Der Regenwald gilt als Lunge der Erde. Unter dem Regime von Jair Bolsonaro, der die Regierung Brasiliens 2019 übernommen hat, schlug der südamerikanische Staat einen neuen Weg ein: Statt Regenwaldschutz geht es der Regierung nunmehr um wirtschaftliche Fragen rund um die Abholzung. Dafür schreckt der Präsident auch nicht vor der Schaffung alternativer Wahrheiten zurück.
Satellitendaten spielen für den Umwelt- und Klimaschutz bereits seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Mit den Augen aus dem All kann beispielsweise die Abholzungsrate im brasilianischen Regenwald überwacht, kontrolliert und dadurch letztendlich so reduziert werden, dass die Auswirkungen des Abbaus des größten Forstgebiets der Welt eingedämpft werden. So gibt es in Brasilien bereits seit den 1980er-Jahren ein umfassendes Überwachungssystem des Amazonasgebiets auf Grundlage von Satellitenbildern. Doch die Art und Weise, wie diese Daten genutzt werden, hat sich unter der Regierung des umstrittenen Präsidenten Jair Bolsonaro geändert: seine Anhänger stellen wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage, um eine Weltsicht zu propagieren, die den wirtschaftlichen Profit in den Vordergrund stellt – und die klimatischen Veränderungen, die aus dem Raubbau am Regenwald entstehen werden, ignoriert.
Zu diesen Ergebnissen kommen zumindest Dr. Maria Cecilia Oliveira, Forschungsgruppenleiterin am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung Potsdam (IASS) und Leandro Siqueira von der Universidade Metropolitana de Santos in Sao Paulo, Brasilien. Die Forscher haben eine gemeinsame Studie untersucht, wie sich die Verwendung von Satellitendaten seit Amtsantritt von Bolsonaro im Jahr 2019 verändert haben. „Wir weisen in der Studie nach, dass rechtsextreme Gruppierungen umfassende Anstrengungen unternehmen, um eine andere ‚Wahrheit‘ über den Amazonas zu schaffen und zu verbreiten – nämlich die, dass die Abholzung ein akzeptabler Preis für wirtschaftliche Entwicklung ist“, beklagt Oliveira. „Über lange Jahre aufgebaute Strukturen, um die Abholzung sichtbar zu machen und zu kontrollieren, werden zunehmen demontiert.“
Erhebliche Rückschritte beim Amazonasschutz
Doch wie sieht sie aus, die alternative Wahrheit Bolsonaros? Über viele Jahre hatten die wechselnden Regierungen Brasiliens die Satellitendaten den Umweltbehörden und der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt. Damit förderten sie eine breite politische Beteiligung verschiedener Gruppen, die sich aktiv für den Schutz und die nachhaltige Nutzung des Regenwalds einsetzten. Zwar gaben die Berichte der Regierung über die Satellitenbilder wesentliche Daten nur in einer zusammengefassten Form wieder, aber sie lieferten den Umweltschützern die Informationen, die sie benötigten, um Druck auszuüben. Das zeigte Wirkung: insbesondere unter Präsident Lula, der von 2003 bis 2011 regierte, gelang es dem südamerikanischen Staat, die Abholzung des Regenwaldes deutlich zu verringern.
Seit Bolsonaro 2019 die Macht in Brasilien übernahm, hat sich das Bild gewandelt und es sind erhebliche Rückschritte zu verzeichnen, berichtet Oliveira: „Neu ermächtigte Gruppen wie das Militär, Klimawandelleugner, rechtsextreme Aktivisten, die Agrarindustrie und rohstofffördernde Privatunternehmen begannen, ein alternatives Regime zu errichten, das darauf abzielt, eine ‚alternative‘ Wahrheit über die Entwaldung zu verbreiten.“ Dir Forscher bezeichnen diesen neuen Umgang mit Informationen als „Hypertransparenzregime“, das mit dem alten „Transparenzregime“ in Konkurrenz stehe.
Vom Schutzgebiet zur Rohstoffressource
Das Zeitalter der Hypertransparenz zeichnet sich durch ein Übermaß an Informationen aus. Oliveira erklärt: „Das funktioniert im Wesentlichen so, dass Gegenaktivisten die wissenschaftliche Gültigkeit der vom Nationalen Institut für Weltraumforschung erstellten Bilder und Satellitendaten in Frage stellen und mit großer Regelmäßigkeit deren Überprüfung durch sogenannte Audits fordern. Damit suggerieren sie, dass den Bildern nicht zu trauen sei. Das Ziel dieser Praxis ist offenbar, die Öffentlichkeit im Hinblick auf die Entwaldung zu verwirren.“ Darüber hinaus beschuldige die Regierung Wissenschaftler, sie würden sich mit Umwelt-NGOs verbünden, um Brasiliens wirtschaftlicher Entwicklung zu schaden.
Das vorherrschende Bild des Amazonasgebiets, so berichten die Forscher unisono, habe sich in den letzten drei Jahren massiv gewandelt: galt es jahrzehntelang als Schutzgebiet mit einem begrenzten Flächenanteil, der nachhaltig entwickelt werden muss, setzt sich mittlerweile immer stärker die Vorstellung vom Amazonas als Rohstoffressource durch. (jr)