Mit ProGIS hat die Versicherung Provinzial NordWest eine Software eingeführt, mit der die Gebäudewertermittlung cloudbasiert bereits im Vertriebsgespräch automatisiert erstellt werden kann. Grundlage ist ein von der con terra GmbH entwickeltes GeoIT-basiertes Verfahren.
Feuer, Hochwasser, Sturm, Hagel: Die wichtigsten der elementaren Grundgefahren sollten mit einer Wohngebäudeversicherung abgedeckt werden. Doch vor Versicherungsabschluss stehen zunächst die Wertermittlung sowie die Größe des Gebäudes im Mittelpunkt. Dafür ist in der Regel eine Vor-Ort-Begehung inklusive Aufmaß von Flächen und Kubaturen durch die Versicherungen notwendig.
Die Provinzial NordWest geht nun im sprichwörtlichen Sinne neue Wege bei der Vor-Ort-Besichtigung – genauer gesagt: Sie spart diese ein. Denn mit ProGIS hat die Versicherung eine Lösung ins Leben gerufen, mit der die Wertermittlung direkt aus dem Büro heraus erledigt werden kann. Entwickelt wurde sie vom PNW Konzern zusammen mit den Geo-IT-Spezialisten con terra GmbH aus Münster. Ausgangspunkt für die neuartige Lösung, die nach Angaben der Provinzial einzigartig in der deutschen Versicherungslandschaft ist, ist die Bereitstellung amtlicher Vermessungsdaten. Mit dem neuen digitalen Prozess wird die Versicherung damit schneller, effizienter, professioneller und – nicht nur aufgrund eingesparter Besuchstermine im Zeitalter von Corona – auch sicherer.
Im Zentrum steht dabei die Anwendung „ProGIS“: Mit ihr können alle Vertriebsmitarbeiter der Versicherung eine Wertermittlung für die Verbundene Gebäudeversicherung (VGV) zu jeder Zeit durchführen. Hinter der App steht ein Geodaten-gestütztes Verfahren, das bei der Provinzial zentral durchgeführt wird und dort sogar unmittelbar in die Tarifberechnung eingebettet ist, sodass alle Vertriebsmitarbeiter bereits direkt im Kundengespräch Prämienhöhe und Versicherungsumfang ermitteln können – ein schnellerer Service ist im Versicherungsvertrieb kaum möglich.
Identifikation und Wertermittlung
Die Provinzial NordWest mit Sitz in Münster ist als Schaden- und Unfallversicherer in Westfalen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern aktiv. Zu ihren über drei Millionen Kunden zählen neben Privatpersonen, Gewerbe- und Industriebetrie-ben auch Institutionen und Landwirte. Dabei birgt das neue Verfahren für den Vertrieb zunächst einmal den Vorteil, dass die zu versichernden Objekte bei der Provinzial auch direkt in Form des Gebäudes auf der Karte identifiziert werden können. Dies ist nur der erste Schritt, im Wesentlichen profitiert der Anwender im Rahmen der Gebäudewertermittlung. Für diese gibt es in Deutschland grundsätzlich zwei Ansätze: Entweder wird die Wohnfläche als Grundlage herangezogen oder alternativ das Volumen des Wohnraums – allerdings wird mit der Kubikmetermethode aufgrund größerer Flexibilität meistens ein genauerer Wert generiert. „Dieses Verfahren kann mit der Lösung optimal unterstützt werden“, beschreibt Markus Wissing, Teamleiter Insurances bei con terra. Die Bauqualität und die Ausstattung des Gebäudes werden dabei beim Besitzer abgefragt.
Prozess mit KI-Unterstützung
Für die Implementierung der Prozesse und Dienste bei dem Projekt sind die Produkte ArcGIS Pro und ArcGIS Enterprise Plattform zuständig, die bei der Provinzial inhouse betrieben werden. map.apps bildet im Wesentlichen das webbasierte Benutzer-Frontend, das von Mitarbeitern auch in den dezentralen Büros genutzt werden kann. Ebenfalls im Einsatz ist FME Desktop, das für die Zusammenführung von Daten an den verschiedensten Stellen des Workflows zuständig ist. Die FME-Technologie von dem kanadischen Unternehmen Safe Software, für die con terra das europäische Service-Center und zugleich Platinum-Partner ist, ist gewissermaßen ein universelles Tool für die Homogenisierung der Daten. Sie sorgt beispielsweise bei den 3D-Daten der Gebäude dafür, dass die Kubaturen vervollständigt und mit den ZÜRS-Daten verschnitten werden. „FME ist quasi der Garant dafür, dass die Datenworkflows zuverlässig und qualitativ hochwertig ablaufen“, sagt Wissing. (sg)
Nutzer wählen dafür in der App das versicherungsrelevante Gebäude im Luftbild aus. Die Software greift dann automatisch auf das zugehörige 3D-Gebäudemodell zu. Dafür hatte die Provinzial NordWest bundesweite LOD2-Daten bei der zuständigen Zentralen Stelle Hauskoordinaten und Hausumringe (ZSHH) in München erworben, um auch mit Blick auf die Datenschutzkonformität auf der sicheren Seite zu stehen. Das Gebäude wird anschließend als Footprint des LoD2-Modells dargestellt und mit allen dazugehörigen Informationen dargestellt – zum Beispiel mit den entsprechenden Gebäudemaßen und den relevanten Risikoinformationen. Zur weiteren Anreicherung hat die Provinzial eine Auswertung via künstlicher neuronaler Netze aufgesetzt. Dieses Verfahren wertet auf Basis der Luftbild- und der Gebäudegrundfläche beispielsweise aus, ob Photovoltaik-Anlagen auf dem Dach installiert sind oder der Dachstuhl ausgebaut ist. „Dies erkennt die trainierte Software zum Beispiel anhand der Solarflächen der Dachstühle oder an den Gauben im Dachstuhl“, beschreibt Dr. Tim Peters, fachlicher Projektleiter bei der Provinzial. Somit bekommt der Nutzer quasi auf Knopfdruck eine belastbare Wertermittlung. „ProGIS bringt uns nicht nur die Arbeitserleichterung, sondern vor allem viel Zeitersparnis und gegenüber dem Kunden einen sehr professionellen Auftritt“, sagt Kevin Lucius, Provinzial-Geschäftsstellenleiter in Rödinghausen. Dementsprechend hoch sind die Zugriffszahlen. Die Provinzial berichtet derzeit von 700 bis 1.000 Zugriffen pro Tag. Weiterer Effekt: Für die Wertermittlung gibt es nun einen einheitlichen Workflow für alle Mitarbeiter und Vertriebspartner.
Tarifierung und Kundendaten
Die Provinzial verfolgt im Zuge ihrer Digitalisierungsstrategie den Ansatz maximaler Vernetzung, was im Fall von ProGIS bedeutet, dass das Verfahren unmittelbar in den Tarifrechner und damit in eines der Herzstücke der Unternehmensanwendungen eingebettet ist. „Die neue Anwendung nennt sich VGV-Easy. Eine GIS-Schnittstellen-API sorgt dafür, dass Vorschaubilder des ausgewählten Gebäudes direkt in dem Tarifrechner erzeugt und angezeigt werden können“, sagt Sandra Scherer, technische Projektleiterin bei der Provinzial. VGV-Easy wurde im ersten Schritt für die Gebiete Westfalen und Hamburg zur Verfügung gestellt, inzwischen jedoch von der Provinzial in allen Geschäftsgebieten ausgerollt. Die ,Vertriebspartner erhalten auf diese Weise einen intuitiven Berechnungsdialog, bei dem die Hausdaten (auch Luftbilder und 3D-Modelle) mit den Informationen des Kunden kombiniert werden und der so für eine transparente Kostenermittlung sorgt.
Startschuss Open Data
Der Startschuss zu dem Projekt fiel bereits im Jahr 2017, als die ersten Bundesländer ihre Geobasisdaten inklusive der Hausumringe und der 3D-Modelle in LoD2 als Open Data bereitstellten. Die Provinzial hatte zuvor in einem Forschungsprojekt überprüft, ob der Geodaten-basierte Ansatz für die Wertermittlung mit denen aus den bisherigen Verfahren, sprich via Vor-Ort-Begehung und händischem Aufmaß, übereinstimmen und war zu einem äußerst positiven Ergebnis gekommen. Nun werden die Geodaten nachhaltig in die Unternehmensprozesse eingebunden – ganz im Sinne der ursprünglichen Intention. (sg)