Beim Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck wurde das hauseigene GIS zur Grundlage für LocateM, ein ausgefeiltes Navigationssystem, das am Hauptsitz in Darmstadt sowohl Mitarbeiter als auch Besucher unterstützt. Die Navigation führt Fußgänger und Pkw auf dem Werksgelände von Tür zu Tür.
Schon seit rund 350 Jahren ist die heutige Merck KGaA in Darmstadt ansässig und gerade in den vergangenen Jahren verändert sich auf dem historischen Industriestandort vieles: Rund eine Milliarde Euro investiert Merck zwischen 2015 und 2020 unter anderem in neue Produktionsgebäude und eine zeitgemäße Infrastruktur auf dem rund 1,5 Quadratkilometer großen Werksgelände. Um Fahrzeugen und Fußgängern die sichere Orientierung auf dieser komplexen, sich ständig wandelnden Anlage zu erleichtern, plante das Unternehmen eine geräteübergreifend nutzbare Navigationslösung zu entwickeln. „Dabei ging es nicht einfach nur darum, den schnellsten Weg von A nach B zu finden“, erläutert Kim Wolter vom Ingenieurbüro Dhom aus Budenheim, der das Entwicklungsprojekt leitete. Die Lösung deckt auch sicherheitsgerichtete Anforderungen für das Betriebsgelände ab, sowohl bei der Fahrzeug-, als auch der Fußgängernavigation. In enger Verzahnung mit dem Softwarehersteller COS-Systemhaus aus Ettlingen und dem Ingenieurbüro Dhom wurde für die Merck-Konzernzentrale in Darmstadt die Lösung mit dem Namen LocateM geschaffen. Seit Anfang Oktober lotst sie Kunden, Mitarbeiter oder auch Fremdfirmen mithilfe von Androidoder iOS-basierten Geräten durch das Werksgelände.
„Ziele suchen, sichere Wege identifizieren, kurze Wegstrecken trotz Baustellen finden. Auf unserem Werksgelände kann das schon mal schwierig sein. Da spreche ich aus Erfahrung. LocateM hilft uns, egal ob wir als Mitarbeiter, externer Partner oder Vertragsfirmenmitarbeiter unterwegs sind, sicher und schnell von A nach B zu kommen,“ berichtet Matthias Bürk, Standortleiter bei Merck in Darmstadt.
Die App enthält Zielnavigation, Positionsanzeige per GNSS, Gebäudesuche (über Bezeichnung, POI oder Karte) sowie eine Umkreissuche, über die der Anwender beispielsweise das nächstgelegene Mitarbeiterrestaurant finden kann. Aber die Datenbasis geht weit über diese aus der kommerziellen Navigationsanwendungen bekannten Inhalte hinaus. Denn das Pflichtenheft von Merck forderte explizit auch nutzungs- und speziell auch sicherheitsrelevante Informationen und die Unterstützung wichtiger interner Prozesse: „Im vergangenen Jahr hat Merck zusammen mit einem Verkehrsplaner ein neues Verkehrskonzept erstellt, um die Sicherheit weiter zu erhöhen“, berichtet Wolter. Betriebsbereiche mit besonderem Gefährdungspotential etwa wurden in der Folge noch deutlicher markiert und dürfen nur von dort arbeitenden Personen betreten werden. Überdies wurden Gefahrenzonen (Fußgängerfurten, Tür-/ Torbereiche, schlecht einsehbare Wege usw.) durch farbliche Markierungen auf der Straße hervorgehoben. Vor dem Betreten bestimmter Gebäude ist es unter Umständen notwendig, zunächst einen Verantwortlichen in einer sogenannten Meldestelle aufzusuchen. Eine weitere Besonderheit sind die über 30 Betriebsflächen im Werk, die laut Pflichtenheft beim Routing weitestgehend vermieden werden müssen. „Auch Themen wie Abfallentsorgung, Barrierefreiheit sowie – ganz wichtig – die aktuelle Baustellensituation waren zu berücksichtigen“, ergänzt Projektleiter Wolter. Eine weitere Forderung des Pflichtenhefts war die Erstellung einer englischen Version für internationale Besucher und Mitarbeiter.
Daten aus dem GIS
Grundlage für die Karten- und Satellitendarstellung waren die raumbezogene Daten, die bei Merck seit Jahren im GIS „COSVega“ erfasst werden. Die Anwendung von COS besteht aus den themenbezogenen Fachschalen, mobilen Datenzugängen und Erfassungsmodulen, Dokumentenverwaltung und der Web-Auskunft. Das GIS wird kontinuierlich ausgebaut und umfasst sämtliche erdgebundenen Infrastrukturen, alle Oberflächen (Grünflächenkataster, Straßen und sonstige versiegelte Flächen, Gebäudeverwaltung) sowie weitere Infrastrukturen wie Baumkataster und Gleisanlagen. Aktuell sind 41 unterschiedliche Themenbereiche in COSVega abgebildet und werden zentral in einer Oracle-Datenbank zusammengeführt.
Armin Canzler, Mitinhaber von COS, erläutert: „Die Anforderungen an ein GIS in einem international tätigen Wissenschafts- und Technologieunternehmen wie Merck unterscheiden sich grundlegend von entsprechenden kommunalen Anwendungen.“ Dabei verweist er auf die hohe Komplexität der abgebildeten Infrastruktur und die hohe Dynamik, mit der sich die Datengrundlagen, etwa durch Bautätigkeiten oder neue Vorschriften, ändern. Entsprechend hoch sei die Aktualität und Qualität der Daten und Funktionen. „COSVega ist äußerst flexibel und kann an die unterschiedlichsten Aufgabenstellungen angepasst werden. Dabei ist die grundlegende Architektur und Funktionsweise der Fachschalen und der Web-Auskunft immer gleich, was zu einer hohen Akzeptanz der Anwender führt“, so Canzler. Die Entwicklung der Navigationslösung LocateM erfolgte dementsprechend auf Basis der Web-Anwendung COSVegaExpress.
Mit der Fachschale werden die Daten des Knoten-Kanten- Models gepflegt. Der Nutzer spricht die Anwendung über eine URL an, das eigentliche Routing wird auf dem Server ausgeführt. Die Apps sind lediglich ein Container: Sie übergeben noch einige Parameter und stellen ansonsten die Verbindung zum Server her. In dieser Architektur wird zudem kein Kartenmaterial auf dem Endgerät abgelegt. „Bei den hohen Aktualisierungsintervallen wäre das auch nicht sinnvoll“, erläutert Wolter.
Knoten-Kanten-Modell
Für die Routenberechnung wurden zwei Knoten-Kanten-Modelle – für Fußgänger und Pkw generiert. Dies war notwendig, um eine effiziente Navigation zu ermöglichen. Daher mussten beispielsweise auch alle Gebäudeeingänge in der Datenmodellierung abgebildet werden. „Eine Herausforderung, denn hier existierte bisher kein einheitlicher Datenbestand, der die Anforderungen an ein Navigationssystem erfüllte”, beschreibt Wolter. Die verschiedenen Gebäude im Werk – 533 Gebäude werden bei der Navigation berücksichtigt – haben mehrere Eingänge mit unterschiedlichen Eigenschaften. Zudem ist zum Beispiel nicht jeder Eingang barrierefrei, oder es ist nicht möglich, einen bestimmten Punkt über jeden Eingang eines Gebäudes zu erreichen. Auch kann es vorkommen, dass ein Gebäudeeingang innerhalb einer (gesperrten) Betriebsfläche liegt, ein anderer Eingang desselben Gebäudes aber frei zugänglich ist. Nicht zuletzt kann es vorkommen, dass ein Gebäude durch den Eingang eines anderen Gebäudes zu erreichen ist. Alle diese Sachverhalte werden in LocateM berücksichtigt.
Zunächst wurde dazu ein Ortsvergleich aller Eingänge durchgeführt. „Hierzu wurde von COS eigens eine mobile Anwendung entwickelt, mit der die notwendigen Daten, sowie die Lage erhoben und dokumentiert werden können“, berichtet Wolter. Das Ergebnis war ein zentraler Datenbestand mit allen Gebäudeeingängen, den erreichbaren Zielen und definierten Haupteingängen eines Gebäudes. In der späteren Anwendung dienen die Daten als „Adressen“. Für die Pkw-Navigation wurden entsprechende Anfahrtspunkte definiert. Zudem können Querverweise hinterlegt werden – etwa, um neben möglichen Eingängen auch Meldestellen anzuzeigen.
Diese Navigations-Punkte können einen einfachen („Ich befinde mich in Gebäude A“) oder spezifischen Gebäudebezug („Ich befinde mich im Gebäude A und bin ausschließlich über die Eingänge 1 und 3 zu erreichen“) besitzen, oder ganz ohne Gebäudebezug (Mitfahrerparkplatz) existieren. Zusätzlich kann in der Anwendung ein eigenes grafisches Objekt für den PoI gesetzt werden, an dem der Punkt später in LocateM erscheint. Die PoIs können zusätzlich in Typen und die Typen in Kategorien zusammengefasst werden. Aktuell gibt es knapp 400 PoIs. Für Heiko Keifenheim, den leitenden Entwickler von COS, ist speziell auch der Komfort für die Nutzer wichtig: „Von all der Komplexität im Hintergrund sollen die Anwender nichts mitbekommen. Im Gegenteil, unser Ziel war es, dem Anwender eine schnelle, schlanke und intuitive Oberfläche an die Hand zu geben. Die ersten Rückmeldungen zeigen zu unserer Freude, dass wir dieses Ziel erreicht haben.“
Kanten und Baustellen
Die Kanten der beiden Netze (Gehwege und Fahrwege) können in jeweils vier Klassen gewichtet werden: Haupt-, Neben-, Zuwege, sowie Wege innerhalb von Betriebsflächen. Je höher das Gewicht einer Kante umso länger bleibt der Algorithmus zur Routenberechnung auf der Kante. Im Zuge der Verkehrsplanung wurde auch festgelegt, dass Besucher sich möglichst lange außerhalb des Werkgeländes bewegen sollen, da dies der sicherste Weg ist. „Mit der Möglichkeit der Gewichtung, war dies ohne weiteres möglich“, berichtet Kim Wolter. Zusätzlich können alle Kanten gerichtet werden, erhalten also eine vorgegebene Fahrtrichtung. Außerdem lassen sich verschiedene Zustände (zum Beispiel „gesperrt“) zuweisen, die ebenfalls beim Routing berücksichtigt werden.
Ein weiterer Meilenstein war die Integration der Baustellendokumentation, die seit einiger Zeit bei Merck existiert und sowohl aktuelle als auch geplante und abgeschlossene Baustellen dokumentiert. Recht schnell stellte sich im Projekt heraus, dass ein automatisiertes „Verschneiden“ der Baustellen auf das Knoten-Kanten- Modell der Navigation nicht zielführend war, da das Knoten-Kanten- Modell ein räumlich abstraktes Abbild der Wegeführung und auch die Baustellen vereinfacht darstellt. Es bedurfte daher der Pflege durch einen Fachschalenanwender. Auch die Angaben zur Verkehrsbehinderung mussten verfeinert werden.
Anpassungen im Projekt
Nach den ersten Gesprächen im Frühjahr 2016 dauerte es knapp 12 Monate, bis LocateM in einer Beta-Version verfügbar war. In den vergangenen Monaten wurden neben der eigentlichen Anwendung auch die Abläufe der Datenpflege und Aktualisierung geprüft und, wo nötig, angepasst. „Beispielsweise haben die ersten Praxistests ergeben, dass es sinnvoll ist das Kartenbild während der Navigation in Laufrichtung des Anwenders auszurichten“, erinnert sich Projektleiter Wolter.
Seit kurzem läuft LocateM erfolgreich im Live-Betrieb, wie Projektleiter Wolter berichtet.