BUSINESS GEOMATICS sprach mit Peter Rummel, Director of Infrastructure Policy Advancement (Europe) bei Bentley Systems Germany GmbH, über die Chancen und Aufgaben von Digitalen Zwillingen im Rahmen der Digitalisierung der Wasserwirtschaft.
Wie kann die „wassersensible Stadt“ berechnet, simuliert und geplant werden?
Das Konzept der „wassersensiblen Stadt“, auch „Schwammstadt“ genannt, basiert auf der ganzheitlichen Betrachtung einer Stadt als System in Wechselwirkung mit Wasser. Die Diskussion konzentriert sich auf das Niederschlagsmanagement und die Mehrfachnutzung von Wasser. Durch bauliche und natürliche Maßnahmen soll Wasser in der Stadt gespeichert werden. Begrünung und Wasserflächen spielen eine zentrale Rolle und tragen zur Verbesserung des Stadtklimas bei. Aufgrund der Komplexität der Strukturen und Effekte ist eine klassische Berechnung und Simulation, basierend auf Geometrie und physikalischen Effekten, nur bedingt möglich. Ein empirischer Ansatz bietet hier eine gute Ausgangsbasis. Sensoren und flächenhafte Aufnahmen geben einen detaillierten Überblick über die aktuelle Situation und die zeitliche Veränderung der Werte. Zusammen mit der Kenntnis der Wirkungsmechanismen werden geeignete Maßnahmen geplant, umgesetzt und schließlich deren positive Wirkung durch Messungen verifiziert. Die Schwammstadt saugt sich voll mit Wasser und Daten.
Kann der Wasserkreislauf heute bereits ganzheitlich in Softwaremodellen abgebildet werden?
Die grundlegenden Eigenschaften von Softwaremodellen und Digitalen Zwillingen sind Detaillierungsgrad und Aktualität. Ein gewisser Grad an Vereinfachung und Generalisierung ist aus Kosten- und Performance-Gründen wichtig. Die Betrachtung des Wasserkreislaufes erfolgt im Grunde ganzheitlich, einzelne Aspekte werden jedoch hinsichtlich von gesteckten Zielen abgebildet. Mit dieser Vorgehensweise hat man „das große Ganze“ im Blick und entwickelt den Digital Twin mit jedem erfolgreich umgesetzten Anwendungsfall weiter – je nach individueller kommunaler Ausgangslage. Die Stadt Münster hat nach dem Starkregenereignis 2014 andere Prioritäten gesetzt als Kommunen, die in Hitzeperioden bereits mit Tanklastwagen die Trinkwasserversorgung aufrechterhalten müssen. Der Digitale Zwilling weist also den Weg in die „Wohlfühlstadt“ und schafft die Grundlagen, damit auch die Stadtplanung vom neuen „Deutschlandtempo“ profitieren kann. Aktuell geben aber noch Genehmigungsverfahren, verteilte Zuständigkeiten, fehlende Vorgaben und Finanzierungsfragen das Tempo vor.
Welche Maßnahmen gelten als besonders effektiv und am schnellsten umsetzbar?
Für den urbanen Raum bedeutet dies zunächst, mehr Grün und Wasser in den Bestand zu integrieren und in der Planung zu priorisieren. Entscheidend für die Schaffung grüner und blauer Infrastruktur ist die Nutzung von Niederschlagsmanagement und Mehrfachnutzungskonzepten für Brauchwasser, um auf die Ergänzung durch Trinkwasser weitgehend verzichten zu können. Der schnellste Hebel ist die Umgestaltung bestehender Grünflächen, mehr Baumbestand und Flächen für Retention und Versickerung. Es folgt die Entsiegelung von Freiflächen durch Teilbegrünung und neuartige wasserdurchlässige Beläge. Längerfristige Ansätze sind die Umgestaltung des Straßenraums – mehr Bäume im Straßenbegleitgrün und auch der eine oder andere Parkplatz musste schon einer an den Klimawandel angepassten Baumart weichen. Jeder Baum, jeder Quadratmeter Dachbegrünung und jeder Liter Regenwasser, der nicht in der Kanalisation verschwindet, zählt.
Hitze bedingt Spitzenlasten im Wasserverbrauch. Welche Herausforderungen gehen damit für das Infrastrukturmanagement einher?
Für eine verstärkte Nutzung von Regenwasser und gereinigtem Brauchwasser benötigt es technische Voraussetzungen für Alternativen zur Trinkwassernutzung und gleichzeitig finanzielle Anreize durch eine progressive Preisgestaltung. Mit intelligenten Mess- und Steuerungssystemen wird es zudem möglich sein, Abgabemengen zu begrenzen und zu priorisieren. Die Herausforderung besteht in der Abkehr von der Praxis, alle unterschiedlichen Anforderungen und Verbraucher mit Trinkwasser und einem sehr niedrigen, konstanten Preis bedienen zu wollen. Intelligente Netze sind in der Lage, diese Differenzierung abzubilden. Wie in den Nachhaltigkeitszielen der UN und auch in der Nationalen Wasserstrategie klar dokumentiert, soll jeder Mensch Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Dies bezieht sich aber in erster Linie auf das Glas Wasser zum Trinken und nicht auf die teilweise unsachgemäße Bewässerung von Grünflächen oder die Befüllung privater Swimmingpools.
Es wird auch über Transport von Wasser über weitere Strecken gesprochen? Gibt es systemtheoretische Ansätze, die Kosten und Nutzen neuer Fernleitungen im Vergleich zu lokalen Ansätzen bewerten können?
Ziel der Nationalen Wasserstrategie ist es, die zeitliche und regionale Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Es liegt auf der Hand, dass je nach Jahreszeit und geographischer Lage sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen herrschen. Dabei ist die Liste der Maßnahmen klar gegeben. An erster Stelle steht die Anpassung des lokalen Verbrauchs an das lokale Wasserdargebot. Ein entscheidender Baustein sind ortsnahe natürliche und bauliche Speichersysteme, um zeitliche Schwankungen abzufedern. Erst als „ultima ratio“, wenn lokale Ansätze ausgereizt sind, kommen Fernleitungen in Betracht. Es macht keinen Sinn lokale Anpassungsdefizite mit hohen Kosten und Aufwand zu verlagern oder zu verteilen. In Anbetracht der fortschreitenden Klimaveränderungen müssen jedoch auch Fernleitungen für am schwersten betroffene Gebiete als Maßnahme mit eingeplant werden. Fernleitungskorridore sind frühzeitig in die Wassernutzungskonzepte der Länder und den Bundesraumordnungsplan aufzunehmen. Digital Twin Technologie liefert hierbei wichtige Informationen über Kosten, zu erwartenden Nutzen, mögliche Trassenführungsvarianten oder Abschätzung der Bauzeit. Vor dem Hintergrund der absehbaren Klimafolgen in den 2030er Jahren müssen wir umgehend in die Planung von Fernleitungen einsteigen, um sie rechtzeitig in Betrieb nehmen zu können.
Welches Potenzial liegt in einem Paradigma von dezentralen, kanalgebundenen Infrastruktursystemen, die sich im städtischen Raum bisher nicht durchgesetzt haben?
Abwasser wurde lange Zeit als Problem angesehen. Der Begriff „Entsorgung“ beschreibt eine Denkweise, die primär dafür steht, Abwasser möglichst schnell aus der Stadt zu leiten. Der Klimawandel erfordert eine konträre Sichtweise. Regenwasser gehört nicht in die Kanalisation, es ist viel zu wertvoll für das Stadtgrün und das Stadtklima. Auch im Abwasser steckt mehr als man denkt. Über Abwasserwärmerückgewinnung oder die Nutzung in Biogasanlagen wird nachhaltig Energie gewonnen. Nach entsprechender Reinigung kann auch Abwasser als Brauchwasser, für die Bewässerung von Grünanlagen und für gezielte Evapotranspiration zur Kühlung verwendet werden. Digital Twins – basierend auf exakten digitalen Modellen kombiniert mit umfassender Sensorik – sind die Grundlage für den Erhalt des Kanalsystems, eine verursacherbasierte exakte Gebührenerhebung, wie auch die wirtschaftliche Nutzung. Diese innovative Sichtweise und Nutzung fördern innovative dezentrale Strukturen für das Kanalsystem und die eingebundenen Anlagen.