Die Deutsche Bahn nimmt ihr komplettes Streckennetz per digitaler Videobefahrung auf. Dies soll nicht nur die Ausbildung der Triebfahrzeugführer unterstützen.
33.000 Kilometer Streckennetz in beiden Fahrtrichtungen als Video – das ist das Ziel von „Streckenkenntnis 4.0“. Was als Filmmotiv ziemlich eintönig erscheinen kann, ist ein großer Schritt in Richtung Digitalisierung der Arbeitswelt bei der Schulung von Triebfahrzeugführern (Tf). Denn diese fahren eine neue Strecke heute viermal hin und viermal zurück, um die erforderliche Streckenkenntnis für einen neuen Streckenabschnitt zu erwerben – ein enormer Zeit- und Kostenaufwand. Das soll zukünftig digital geschehen, indem sie die Streckenkenntnis zusätzlich per Video erwerben können. An dem Service arbeiten Kollegen von DB Fernverkehr, DB Regio, DB Systel und DB Netz seit November 2018 zusammen. Sie erörtern, wie eine moderne, digitale Streckenkenntnis 4.0 aussehen müsste, damit diese Aktzeptanz bei rund 19.000 Tf und auch den Konzerngremien findet. Das Kernteam besteht aus sechs Kollegen, die nach der Devise „Wir lieben Fehler – wenn wir daraus lernen“ arbeiten.
„Mit dieser veränderten Kultur wollen wir mutige Ideen für Veränderungen voranbringen“, sagt Michael Denck, Produktlei- ter bei der DB Systel GmbH. Der Kreis an Kollegen, die an den Videos interessiert sind, wachse stetig. Inzwischen ist daraus schon eine kleine, offene Community auf DB Planet, dem internen Kommunikationsmedium der DB, geworden.
Streckenkenntnis für Mitarbeiter

Die Anwendung Streckenkenntnis 4.0 auf einem Tablet: Die aktuelle Position ist zusätzlich auf einer Karte zu sehen. Grafik:Deutsche Bahn AG
Aktuell wird das gesamte Streckennetz der Bahn mit einer einfachen GoPro-Kamera oder per speziell ausgesuchtem Smartphone gefilmt. „Der Trick dabei ist, dass wir zu den Videos auch die GPS-Positionen mitspeichern und somit die Videos auf eine streckengenaue Karte zuordnen“, so Denck. Hierzu greift das Team auch auf interne Ressourcen zurück, wie etwa auf das GEO-Team. Dieses stellt ein open source basiertes Framework zur Verfügung, in dem zum Beispiel speziell abgestimmte Kartenlayer eingebunden werden. „Auch dieses ist ein Teil der DB Systel-Strategie zu einem integrierten Serviceangebot in Sachen GIS. Gerade diese Arbeitsaufteilung macht es möglich, Anforderungen in recht kurzer Zeit umsetzen zu können“, so Stephan Wrede, GIS-Sezialist bei der DB Systel. Zukünftig können sich Tf einfach die neue Strecke inklusive der notwendigen Informationen wie dem Fahrplan und der Streckendokumente online ansehen. Somit reduziert die Deutsche Bahn die realen Mitfahrten auf ein Minimum.
Konzernweiter Ansatz
Mit dem Projekt will die DB vor allem auch die Flexibilität im Betrieb erhöhen, da immer wieder Tf mit Streckenkenntnis ein Engpassfaktor sind. Insbesondere bei neu eingerichteten Baustellen im Netzbereich oder bei Betriebsstörungen müssen genügend Tf die Umleitungsstrecken „kennen“. Gerade hier soll die digitale Streckenkenntnis eine ideale Ergänzung zum Erwerb der notwendigen Fähigkeiten ermöglichen.
„Aber nicht nur Tf profitieren von unserem Projekt. Das Notfallmanagement kann zukünftig schnell auf unseren Videos die Gelände aus der Lok-Perspektive einsehen, um Sammelplätze, Anfahrten zur Unfallstelle etc. besser zu planen. Ein weiterer wichtiger location based use Case – oder einfacher ausgedrückt eine ganz normale GIS-Anwendung“, so Wrede.
Auch die Instandhalter von DB Netz, DB Energie und DB Kommunikationstechnik können mit Streckenkenntnis 4.0 ihren nächsten Arbeitsort virtuell planen, bevor es in den echten Einsatz geht. Hierdurch wird unter anderem erreicht, dass sogenannte Fehlzeiten reduziert werden beziehungsweise die zu erledigenden Aufgaben zeit- und fristgerecht bewerkstelligt werden können.
Was wiederum auf das Gesamtziel Pünktlichkeit Einfluss haben soll, wenn vorab geplante Streckensperrungen fristgerecht wieder freigegeben werden können. Auch weitere digitale Projekte wie „Autonomes Fahren auf der Strecke“ sollen zukünftig auf das Streckennetz als Videomaterial zurückgreifen.
Streckenkenntnis zur Überwachung der Infrastruktur
„Das Projekt bietet zudem konzernübergreifende Vorteile. Heute nehmen DB Fernverkehr, DB Regio und externe Eisenbahnunternehmen (EVU) im Regelbetrieb das Gleisnetz auf, damit wir als DB den Infrastrukturzustand im Auge behalten. In Zukunft können dafür die Videos der Streckenkenntnis genutzt werden, die dank vollautomatischer künstlicher Intelligenz (KI) die Videos im Cloud-Rechenzentrum auswerten.“
So können die Verantwortlichen leicht erkennen, ob ein Grünschnitt entlang der Strecke notwendig ist, ob sich zwischen zwei Aufnahmefahrten Infrastruktur verändert hat und ob diese Änderungen in den Bestandsplänen verzeichnet sind. „Das Vielversprechende an unseren aktuellen Versuchen bei der Infrastrukturüberwachung ist, dass unser System mit jeder ‚Videobefahrung‘ exakter wird. Wir sind zuversichtlich, dass wir mit unseren Videos unsere Strecken nahezu metergenau vermessen können“, so Wrede. „Wir realisieren für die Deutsche Bahn die ‚Digitalisierung der Arbeitswelt‘. Genauso profitiert die Infrastruktur entlang der Strecke: Wir realisieren für die Deutsche Bahn die ‚Digitale Schiene Deutschland‘“, so Denck. (sg)